Der Kurswechsel von US-Präsident Donald Trump im Ukrainekrieg und die Rede von Vizepräsident J.D. Vance in München haben in Europa den Ruf nach Verteidigungsfähigkeit ohne Hilfe der USA geweckt. Seither wird auf dem Kontinent mit neuer Intensität über Aufrüstung gesprochen.

600 Milliarden Euro sollen für die Sicherheit Europas eingesetzt werden, schlug die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vor. «ReArm Europe» heisst das Projekt, das jene Sicherheit gewährleisten soll, die Europa in den vergangenen Jahrzehnten der kontinuierlichen Abrüstung vernachlässigt habe.

Waffen für den Frieden

Sind es Waffen, die Europa Sicherheit garantieren? Bieten Aufrüstung und Wehrhaftigkeit die beste Chance, einen Konflikt zu verhindern? Solche Fragen treiben auch die Philosophie um.

Ausgerechnet Jürgen Habermas, Philosoph und Verfechter der Diskursethik, der stets auf den Dialog setzte, hält nun eine europäische militärische Abschreckungskraft für notwendig – zur Selbstbehauptung in einer global zersplitternden Ordnung.

Aufrüsten soll Abschrecken

Politphilosophin Katja Gentinetta meint, es gehe zunächst darum, Europa wieder verteidigungsfähig zu machen. Es sei ein wichtiges Signal, mit dem sich Europa im besten Fall auch abschreckend zeigen könne: «Dass man uns nicht einfach überrennen kann.»

Bloss: Dieses Signal kann auch als Provokation gelesen werden. Olaf Müller, relativer Pazifist und Philosoph, differenziert deshalb: «Ich bin der Meinung, dass uns die Militärs erstmal sagen, was sie brauchen, um die NATO-Ostgrenze abzusichern.» Zentral sei es, in defensive Waffen zu investieren, die von Seiten Russland nicht als Aggression missverstanden werden können.

Je mehr aggressive Waffen aufgebaut werden, desto stärker wird sich ein Gegner bedroht sehen und im Gegenzug ebenso Aggressionspotentiale aufbauen. Eine Rüstungsspirale, die aus dem Kalten Krieg bekannt und gefürchtet ist.

Zwar hat das Schreckensgleichgewicht damals insofern funktioniert, als dass es nicht zum Atomkrieg kam. Aber «je mehr aggressive Waffen wir haben, gerade Atomwaffen, desto grösser ist die Gefahr, dass uns die ganze Sache durch einen dummen Fehler um die Ohren fliegt», so Müller.

Wieviel Pazifismus ist möglich in Kriegszeiten?

Für Europa bedeute dies, dass Aufklärungsfähigkeiten gewonnen und Luftabwehrsysteme statt Mittelstreckenraketen positioniert werden müssen. Pazifismus und Aufrüstung widersprechen sich also nicht? «Als relativer Pazifist wäre es mir lieber, wir könnten davon weg und zum Beispiel zu wesentlich vertrauensbildenden Massnahmen übergehen.» Aber aktuell sei nicht der Augenblick dafür, so Müller.

Besteht der beste Weg, den Frieden zu bewahren oder einem Angriff vorzubeugen, also darin, sich zu bewaffnen? Schon Aristoteles meinte, wir führen Krieg, um im Frieden zu leben. Damit sei auch Verteidigung gemeint. Letztlich sei es eine «Entscheidung für ein Leben in Freiheit und in Frieden. So müssen wir die heutige Situation einordnen», so die Politphilosophin Gentinetta.

Reaktion auf Gewalt

Es gehe nicht mehr um die Frage «Gewalt ja oder nein?», denn diese sei längst da. Deshalb müssten wir uns fragen, was uns wichtig sei: Zu leben und zu überleben oder eine Rechtsordnung und Freiheit aufrechtzuerhalten?

Europa hat seine Entscheidung getroffen. Stellt sich die Frage, wie diese Entscheidung interpretiert wird.

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