Die Rückkehr des deutschen Überfliegers
Zu Hause bei Johannes Rydzek erinnern zwei Fotos an jene Tage, als er den Olymp erklomm. Zeugnisse einer Zeit wie im Rausch: Doppelgold bei den Winterspielen 2018 in Südkorea. Das eine Foto zeigt den Zieleinlauf des Einzelwettbewerbs – Rydzek knapp vor seinen Teamkollegen Fabian Rießle und Eric Frenzel –, das andere die Siegerehrung. Deutsche Festtage in Pyeongchang. Und das, nachdem Rydzek ein Jahr zuvor mit viermal Gold zum König der Weltmeisterschaften von Lahti aufgestiegen war. „Ich habe mehr erreicht, als ich mir als Kind erträumt hätte“, sagt er heute. „Aber natürlich werde ich auch immer an diesen Erfolgen gemessen. Die von außen, aber auch die eigene Erwartungshaltung ist hoch – und das war in den vergangenen Jahren nicht immer einfach.“ Denn nach dem Rausch kam der Kater.
Sein halbes Leben springt und läuft Johannes Rydzek mittlerweile im Weltcup. 33 Jahre alt ist er, hat die Höhen erlebt, genau wie die Tiefen. Er war der gefeierte Held, Deutschlands „Sportler des Jahres“ und kämpfte danach um den Anschluss, hatte Zweifel und war auch mal nah dran an der Verzweiflung. „All diese Erfahrungen, egal wie schön oder nicht, machen mich zu dem Sportler, der ich bin. Ich bin auch stolz darauf, dass meine Geschichte ein Auf und Ab hat, dass ich viel erlebt habe“, sagt er. „Diese emotionalen Extreme sind prägend.“ Dass er nie aufgab, wurde diesen Winter mit seinem ersten Weltcupsieg seit sechs Jahren belohnt. Und so kann der Oberstdorfer 14 Jahre, nachdem sein Stern bei der WM in Oslo aufging und nach zuletzt drei enttäuschenden Titelkämpfen jetzt hoffnungsvoll nach Trondheim zu den Welttitelkämpfen reisen.
Er dürfte dort eine exzellente Kulisse vorfinden, schließlich sind die Norweger verrückt nach allem, was auf den schmalen Ski ausgetragen wird. Die Titelkämpfe 2011 am Holmenkollen, der Wiege des nordischen Skisports, waren ein Fest, das seinesgleichen sucht – Rydzek als 19-Jähriger mittendrin. Und dann das: Er gewinnt Silber im Einzel sowie in beiden Teamwettbewerben unter anderem an der Seite von Frenzel, der in der Folge fünfmal den Gesamtweltcup holte und nun im zweiten Jahr Bundestrainer ist. „In Oslo“, erinnert sich Rydzek, „war ich wirklich geflasht, weil es atmosphärisch so elektrisierend war. Ich hoffe und glaube, dass es jetzt ähnlich wird.“
Von ganz oben kommend, um den Anschluss kämpfend
Verstecken muss sich das deutsche Team nicht: Nach einer schwachen vergangenen Saison, in der erstmals seit 25 Jahren kein Weltcupsieg in der Bilanz stand, mischen sie nun wieder oben mit. Vor allem Vinzenz Geiger und Julian Schmid, aber auch Rydzek, dessen Winter bisher wechselhaft, aber eben auch erfolgreich verläuft, kann vorn eingreifen. „Wir haben eine unglaublich starke Mannschaft, werden mit breiter Brust in alle Wettkämpfe gehen und haben in jedem Rennen alle Möglichkeiten“, sagt Rydzek, für den es bereits die neunten Weltmeisterschaften sind. „Ich möchte sie noch bewusster genießen als früher“, sagt er. „Als 19-Jähriger in Oslo habe ich es auch genossen, aber es hat mich auf eine gewisse Weise auch erschlagen.“
Nach Oslo setzte er seinen Aufstieg fort: Erster Weltcupsieg kurz danach, Olympiasilber im Team 2014, erstes WM-Gold 2015 und dann 2017 Lahti, als er in vier Wettbewerben viermal Gold gewann. „Ritschi könnte im Moment die Schanze rückwärts runterspringen und würde trotzdem gewinnen“, sagte Teamkollege Björn Kircheisen damals. Die Olympiasiege 2018 im Team und allein machten Rydzeks sportliches Glück perfekt.
2019 dann war seine WM-Ausbeute mit den Plätzen acht und neun sowie Rang zwei im Team noch passabel, doch von der Saison 2019/2020 an kam er im Gesamtweltcup nicht mehr in die Top Ten, erst voriges Jahr gelang ihm wieder der Sprung von 15 auf acht. Besonders hart: Bei der WM in seiner Heimatstadt Oberstdorf reichte es gerade mal für die Ränge 28 und 17, im Teamwettbewerb und Teamsprint wurde er nicht eingesetzt, ebenso wenig im Teamwettbewerb der Winterspiele 2022. 2023 tröstete WM-Mannschaftssilber immerhin über Rang 16 im Einzel.
Von ganz oben kommend, um den Anschluss kämpfend – kein leichter Perspektivwechsel. „Es gab Momente, in denen mich sehr viele Zweifel begleitet haben“, sagt Rydzek. „Wichtig für mich war mein gutes Umfeld – Familie, Freunde.“ Die Gründe für die schwierigen Jahre sind vielschichtig, liegen zum großen Teil in der Sportart begründet. Denn in all den Jahren, in denen Rydzek im Weltcup springt, hat sich viel geändert. Regeln, Material, Athleten. Sich immer wieder anpassen, immer wieder neu erfinden, vor allem von der Schanze, gelingt nicht immer. Würde er heute alles so machen wie in den Erfolgsjahren – es würde kaum zu ähnlichen Höhenflügen führen.
Rydzek: „Darauf habe ich immer vertraut“
Er fand einen Umgang mit der Situation, auch mit der eigenen Erwartungshaltung und jener von außen. „Ich habe gelernt, mich auch über kleinere Erfolge sehr zu freuen. Das heißt nicht, dass man sich mit wenig zufriedengeben muss oder die Ansprüche runterfährt, aber man sollte auch kleine Schritte feiern“, sagt er. Ehrgeiz sei wichtig, manchmal aber eben auch hinderlich. Sowieso: „Man darf diese sportlich schmerzhaften Momente nicht zu sehr in alle anderen Bereiche ausweiten, weil es nur ein sehr wichtiger Bereich meines Lebens ist – es gibt auch andere.“
Nicht immer aber konnte Optimismus die Zweifel schnell beiseiteschieben. „Wenn es dann gar nicht funktioniert, schleicht sich auch ein Fünkchen Verzweiflung mit ein. So war es bei mir“, erzählt er. Rücktrittsüberlegungen flammten allerdings immer nur kurz auf. „Natürlich kommen die Gedanken, alles hinzuwerfen. Aber wenn ich mich dann damit beschäftigt habe, was das bedeutet, war mir schnell klar, dass es noch nicht der Schritt ist, den ich gehen will.“
Vor allem die Leidenschaft für den Sport an sich, die ihm auch abseits der Erfolge blieb, machte die Sache leichter. Ebenso der Gedanke daran, wie er als Kind zu all jenen aufschaute, die im Weltcup dabei waren – egal, wie weit vorn. „Genauso, wie ich damals von den Weltcupstartern begeistert war“, sagt er, „kann ich jetzt diese Passion an Kinder übertragen. Das ist unglaublich schön.“
Und schließlich kommen ja die wenigsten Athleten ohne Brüche in ihrer Laufbahn aus, bei manchen sind sie nur länger und tiefer als bei anderen. „Genau das ist es, was den Sportler ausmacht – dass man trotzdem dranbleibt, dass man diesen langen Atem hat und daran glaubt: Irgendwann wendet sich das Blatt wieder, irgendwann geht es auf. Darauf habe ich immer vertraut.“ Oft sind es die Comeback-Geschichten, die am beeindruckendsten und emotionalsten sind.
Der Tag, an dem die Hoffnung Realität wurde
Am 30. November 2024, 2150 Tage nach seinem bis dahin letzten Weltcupsieg, schrieb Rydzek mit seinem Triumph in Ruka/Finnland eine solche Story. Dank eines großen Vorsprungs hatte er sogar Zeit, die letzten 200, 300 Meter zu genießen und Eric Frenzel an der Strecke abzuklatschen, bevor er dann im Ziel seine sechs Jahre jüngere Schwester, eine Skilangläuferin, innig umarmte. Sie, die gewissermaßen stellvertretend für alle stand, die ihn immer gestärkt hatten.
„Es war ein sehr emotionaler Moment, sie an der Strecke zu hören und vor allem im Ziel zu umarmen. Ich bin dankbar, das so erlebt zu haben“, sagt Rydzek. „Hoffnung ist ein großer Begleiter von Sportlern. Und ich glaube, jeder hat die Hoffnung, dass es nächstes Mal besser wird, dass es irgendwann aufgeht. Weil man weiß, was in einem steckt. Und dies war genau dieser Tag.“
Melanie Haack ist Sport-Redakteurin. Für WELT berichtet sie seit 2011 über olympischen Sport sowie über Themen aus dem Fitness- und Gesundheitsbereich. Hier finden Sie ihre Artikel.
Haftungsausschluss: Das Urheberrecht dieses Artikels liegt bei seinem ursprünglichen Autor. Der Zweck dieses Artikels besteht in der erneuten Veröffentlichung zu ausschließlich Informationszwecken und stellt keine Anlageberatung dar. Sollten dennoch Verstöße vorliegen, nehmen Sie bitte umgehend Kontakt mit uns auf. Korrektur Oder wir werden Maßnahmen zur Löschung ergreifen. Danke