Das Café Europa hat schon viel erlebt. 1930 wurde es am Jahnplatz, im Herzen Bielefelds, eröffnet. Es steht auch für die Geschichte der ostwestfälischen Stadt. Zunächst war es ein schickes Café. Im Zweiten Weltkrieg wurde es komplett zerstört, nach dem Wiederaufbau wurde es zu einem kleinen Konzertsaal, bevor es Diskotheken und Clubs unterschiedlichster Art beherbergte. Die meisten Bielefelder, egal wie alt sie auch sein mögen, waren wahrscheinlich irgendwann schon einmal da. In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch wurde das Café Europa außer der Reihe geöffnet – aus besonderen Anlass.

„Ich habe gehört, sie machen extra für uns auf“, sagte Michél Kniat, den alle nur Mitch nennen. Der Trainer von Arminia Bielefeld hatte richtig gehört. Seine Spieler, die bereits in der Mannschaftskabine den Einzug ins Halbfinale des DFB-Pokals mit reichlich Bier begossen hatten, hatten es ihm erzählt: Da werde gleich die Post abgehen – und er sei natürlich auch eingeladen. „Ich werde kurz da sein, weil ich mein Wort gegeben habe“, erklärte Kniat. Doch die Spieler sollen sich bloß keine Gedanken machen, ob sie sich während seiner temporären Anwesenheit irgendwie zurückhalten sollen. „Heute haben sie einen Freifahrtschein, da ist mir egal, was sie machen. Sie sollen den Tag, den Abend genießen – von mir aus bis in den nächsten Tag“, erklärte er.

Ganz Bielefeld feierte die Sensation. Mit 2:1 (2:0) hatte der Drittligist im Viertelfinale Werder Bremen geschlagen – und somit nach Union Berlin und dem SC Freiburg den dritten Erstligisten aus dem Wettbewerb geschossen. „Ihr könnt nach Hause fahren“, brüllten die Arminen-Fans den Bremern hinterher. „Berlin, Berlin, wir fahren nach Berlin“, sangen sie.

„Jedes Mal aufs Neue eine Gänsehaut und keine Normalität“

Es wurde eine Menge an Emotionen freigesetzt – weil es halt, obwohl die Bielefelder ja schon vorher als Pokalschreck galten, erneut außergewöhnlich ist. „Nein, das haben wir noch nicht realisiert. Es ist jedes Mal aufs Neue eine Gänsehaut und keine Normalität“, sagte Linksverteidiger Louis Oppie. So richtig könne er auch nicht erklären, warum die Mannschaft, die in der Dritten Liga auf dem vierten Platz steht und fünf Punkte Rückstand auf einen direkten Aufstiegsplatz hat, ausgerechnet gegen nominell stärkere Gegner immer wieder über sich hinauswächst. „Wir gehen mit der Mentalität ins Spiel, dass wir nichts zu verlieren haben – gerade gegen Mannschaften, die einfach eine hohe Qualität haben. Jeder geht für den anderen noch mal einen Meter mehr“, sagte er.

Für den Rest sorgte dann das Ambiente: Wenn die Schüco-Arena, die altehrwürdige „Alm“, voll ist, beflügelt das. „Unser Stadion ist einfach der zwölfte Mann, die Stimmung ist unglaublich“, so Oppie.

Damit ist er ziemlich nah dran, die Magie dieser Pokalnächte zu beschreiben. Sie entwickelt sich langsam _ wenn die Fans durch die engen Straßen des Bielefelder Westens der hell erleuchteten Alm zustreben. Viele moderne deutsche Fußballarenen liegen mittlerweile an den Stadträndern, in Gewerbegebieten. Die Alm ist mittendrin. Schon Stunden vor dem Spiel sind überall um sie herum Fans zu sehen – vor den Kneipen, an den Verkaufsständen auf dem Bürgersteig, auf den Straßen. Wenn der Mannschaftsbus dann vorfährt, muss er sich vorsichtig durch sie hindurch tasten. Das baut eine spezielle Spannung auf.

Aggressiv und offensiv

Die entlädt sich dann mit Anpfiff – und die Mannschaft vergisst, dass sie ein krasser Außenseiter ist. Sie spielt ganz anders, als es ihr eigentlich zustehen würde: aggressiv und offensiv. Bei den Toren durch Marius Wörl (35. Minute) und dem Eigentor durch Bremens Julian Malatini (41.) war es unfassbar laut. Die Tribünen vibrieren. „Das war Vollgas“, sagte Wörl. „Wir wollten mutig vorne draufschieben, weil wir wissen, wenn wir nicht alles geben, kann es einem auch passieren, dass man nur hinterherläuft“, erklärte der 20-Jährige, der so etwas wie die Bielefelder Lebensversicherung im Pokal ist. Wörl hatte in der ersten Runde beim 2:0 gegen Hannover 96 ein Tor vorbereitet. Beim 2:0 gegen Union hatte er den Führungstreffer erzielt und den zweiten aufgelegt. Beim 3:1 gegen Freiburg leitete er das 1:0 ein – nun traf er erneut. Damit hat er in vier Pokalspielen fünf Scorerpunkte gesammelt – genauso viel wie in 24 Spielen der Dritten Liga.

Den Schwung und die Euphorie, die die Arminia im Pokal zeigt, soll endlich auch wieder in den Liga-Alltag mitgenommen werden. Dass es dort nicht immer so berauschend zugeht, habe Gründe. Die Mannschaft ist talentiert, aber noch nicht ganz gefestigt. Sie musste im vorletzten Sommer, als die Arminia nach dem zweiten Abstieg in Folge bis in die Dritte Liga durchgereicht worden war, komplett neu aufgebaut werden. „Wir sind eine ganz junge Mannschaft, die ihre Schwankungen hat. Aber wir dürfen uns, wenn es mal nicht läuft, nicht gegenseitig auffressen“, sagte Kniat, der im zweiten Jahr in Bielefeld ist.

Der Pokal und vor allem die zweite Halbzeit gegen Werder, als das Team nach dem Bremer Anschlusstreffer leiden musste, sei deshalb auch beispielgebend, wie das wichtigste Ziel erreicht werden kann: die Rückkehr in die zweite Liga.

Dazu gibt es gutes Geld. Durch das Erreichen des Halbfinales hat Arminia rund 6,5 Millionen Euro an Einnahmen garantiert – nur knapp eine Million Euro weniger als der komplette Saisonetat für den Lizenzspielerkader beträgt.

Es ist das vierte Mal in der Vereinshistorie, dass es die Ostwestfalen im Pokal so weit geschafft haben – bislang war hier auch immer Endstation. Diesmal ebenfalls? „Was davor war, interessiert mich Null. Wir sind gerade auf einem guten Weg, eine noch bessere Geschichte zu schreiben“, sagte Mitch Kniat – und verabschiedete sich ins Café Europa.

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